Dolmetschen und Dolmetscher
am 13/03/2018In der Vorstellungswelt von Otto Normalbürger, der sie einmal live erlebt hat, schweben professionelle Dolmetscherinnen und Dolmetscher nahezu göttergleich über der Spitze des Olymps als Krone der Schöpfung der Sprachgenies auf dem Planeten in astronomischen Sphären. Souverän geben sie jeden Gedanken eines fachlich komplizierten, in schnellem Französisch, Englisch und Japanisch, Slowenisch etc. vorgetragenen Vortrags über die neuesten Erkenntnisse über die Entstehung von Nierensteinen auf einem Nephrologenkongress wieder, wo sie doch letzte Woche noch Vertretern von Delegationen aus dem frankophonen Afrika, aus Japan, den Vereinigten Staaten und Slowenien bei einer Tagung über Entwicklungszusammenarbeit ihre deutsche Stimme geliehen haben. Als ob eine Adelung als wandelnde Lexika und Inbegriff der Universalbildung (in unterschiedlichen Sprachen!) nicht Eloge genug wäre, wissen sie sich auch noch derart geschliffen und präzise auszudrücken, dass sie doch glatt die Redner des Originals in punkto Rhetorik und Selbstsicherheit in den Schatten stellen. Oder trügt der Schein?
Über die besten Entertainer munkelt man, sie plage selbst nach Jahren Erfahrung auf der Bühne oder vor der Kamera noch Lampenfieber. Der entscheidende Punkt, der sie von Normalsterblichen unterscheidet: Sie lassen es sich nicht anmerken!
Dolmetscher bei der Arbeit – die Achillesfersen der Wortjongleure
Die meisten Dolmetscher sind sich dahingehend einig, dass gute Dolmetscher nicht geboren, sondern gemacht werden. Zwar spielt Talent wohl eine Rolle; um sich aber tatsächlich dauerhaft auf dem Markt etablieren zu können, bedarf es etwas mehr als „nur“ des Beherrschens von – mindestens zwei – Sprachen: Eine profunde Allgemeinbildung und Kenntnisse im jeweiligen Einsatzbereich sind ebenso vonnöten wie eine exzellente Ausdrucksweise in den jeweiligen Arbeitssprachen, Stressresistenz und die Fähigkeit zur blitzschnellen Lösung von Problemen.
Genau da liegt der Hase im Pfeffer: Die Spreu trennt sich spätestens dann vom Weizen, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Um nur ein paar Stressoren aufzuzählen, die immer wieder im Rahmen von Untersuchungen über den Dolmetschberuf genannt werden: schnelle Vorträge, ungeübte Redner, mangelnde Möglichkeit zur Vorbereitung auf einen Auftrag, schwierige Akzente oder eine allzu ausgefallene Wortwahl des Vortragenden. Und auch bei optimalen Bedingungen stellt Dolmetschen eine Mammutaufgabe dar, die es zu bewältigen gilt: Texte müssen unter Zeitdruck nach einmaligem Hören von einem komplexen Zeichensystem (d. h. der Ausgangssprache) in ein anderes übertragen werden. Um mit diesen Anforderungen fertig zu werden, stehen Dolmetschern einige Tricks und Kniffe zur Verfügung.
Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen – aber durch Übung gemacht worden!
In defizitären Situationen zeigt sich, ob Dolmetscher über das nötige Rüstzeug für ihren Beruf verfügen. Um schwierige Passagen zu meistern, greifen sie auf verschiedene Werkzeuge zurück, um einen kohärenten Zieltext zu produzieren; einige dieser Werkzeuge, derer sie sich bedienen, sollen hier kurz und knapp beschrieben werden.
Ein Problem, das sich immer wieder durch den Umstand ergibt, dass nicht nur zwischen Sprachen, sondern auch zwischen Kulturen vermittelt wird, ist das der Übertragung von Kulturspezifika. Wie macht man etwa einem Amerikaner begreiflich, was ein Heuriger ist, ein so typisch wienerisches „Weinlokal“? In vielen zweisprachigen Wörterbüchern Deutsch – Englisch taucht der Begriff gar nicht auf; Vokabellernen ist also zur Vorbereitung nicht möglich. Aber natürlich ist der Dolmetscher nicht aufgeschmissen: Was er etwas nicht mit einem Wort ausdrücken kann, umschreibt er es einfach. Durch Paraphrasieren von Ausdrücken wird alles übersetzbar – wenn auch nicht immer mit einem einzigen Wort.
Eng mit dem Paraphrasieren verbunden sind das Generalisieren (Verallgemeinerung eines Sachverhalts), das Simplifizieren (vereinfachte Darstellung) und die Tilgung (Weglassen von als unwichtig eingestuften Elementen des Ausgangstexts) zu nennen. Auch wenn ein Dolmetscher also im betreffenden Moment nicht das mot juste parat hat, kann er – vorausgesetzt, er hat den Gedanken des Redners nachvollzogen – die Botschaft des Originals durchaus wiedergeben. Auch die Substitution, d. h. das Ersetzen einer Passage, die nur unzureichend verstanden wurde, ist eine elegante Lösungsstrategie: Als kognitiv äußerst fordernde Tätigkeit kann es beim Dolmetschen (vor allem beim Simultandolmetschen) immer wieder vorkommen, dass Passagen nicht zu 100% verstanden wurden, wohl aber zum großen Teil. In diesem Fall kann ein Dolmetscher sich allgemeiner ausdrücken; er kann zum Beispiel Elemente in seine Dolmetschung einbauen, die im betreffenden Kontext Sinn ergeben können. Am besten lässt sich diese Strategie anhand von Jahreszahlen nachvollziehen: Weil ein Dolmetscher beispielsweise Achtzehnhundertdreiundachtzig nicht vollständig gehört hat (etwa, wenn er mit der Formulierung der vorausgehenden Passage beschäftigt war), aber „…dreiundachtzig“ noch verstanden hat, kann er den Abschnitt einfach durch „Ende des 19. Jahrhunderts“ ersetzen. Zwar ist das nicht so exakt wie der Ausgangstext, doch der kommunikative Gehalt bleibt weitgehend erhalten und eine kohärente Textproduktion wird sichergestellt.
Um o. g. Strategien allerdings gekonnt einsetzen zu können, bedarf es einiger Erfahrung – und Wissen um die Thematik. Erst durch eine gewisse Routine im Umgang mit Texten schleifen sich diese Techniken so ein, dass ihre Anwendung oft weder der Zuhörerschaft noch den Dolmetschern selbst auffällt. Letztere verfügen dann über einen derartigen Grad der Automatisierung, der es ihnen ermöglicht, ihre kognitiven Ressourcen sinnvoll zu schonen und dadurch eine optimale Vermittlung der Ausgangsrede zu gewährleisten. Damit sie das tun können, geben Dolmetschdidaktiker ihren Schützlingen zuvorderst folgenden triadischen Rat mit auf den Weg: „Üben, Üben, Üben!“